Fachleute warnen vor einem Mangel an Nutztierärzten. Kann die Telemedizin die Situation entschärfen? Eine Einschätzung von Tierarzt Dr. Rolf Nathaus.
Was versteht man unter Telemedizin?
Als Telemedizin bezeichnet man das Anbieten tiermedizinischer Leistungen in digitaler Form, also über Online-Messengerdienste, wie zum Beispiel WhatsApp oder spezielle Softwarelösungen. Die Palette reicht vom Informationsaustausch zwischen Tierarzt und Tierhalter bis hin zum Expertenrat, den der Hoftierarzt bei spezialisierten Berufskollegen einholt.
Welche Vorteile kann die Telemedizin dem Nutztierhalter bieten?
Experten warnen bereits seit geraumer Zeit vor einem drohenden Mangel an Nutztierärzten, vor allem im ländlichen Raum. Dadurch könnte es bei tiermedizinischen Problemen künftig noch länger dauern, bis der betreuende Hoftierarzt vor Ort ist. Hier kann die Telemedizin für Entlastung sorgen und der Landwirt bei tiergesundheitlichen Problemen früher Gegenmaßnahmen einleiten.
Gibt es bereits Beispiele aus der Praxis?
Das Smartphone und der Messengerdienst WhatsApp sind in vielen Tierarztpraxen bereits fester Bestandteil der tiermedizinischen Kommunikation mit den Nutztierhaltern. Der Landwirt schickt dem Hoftierarzt Fotos oder ein kurzes Video des erkrankten Schweines und fragt nach, wie er sich verhalten bzw. welche Maßnahmen er ergreifen soll.
Kann Telemedizin den Bestandsbesuch ersetzen?
Nein, anhand von Fotos oder eines kurzen Videos darf der Tierarzt allenfalls eine Verdachtsdiagnose stellen. In der Praxis werden wir immer häufiger mit Komplexerkrankungen konfrontiert. Die Krankheitsbilder ähneln sich. Für eine zielgerichtete Behandlung muss der Tierarzt deshalb die betroffenen Tiere sowie den ganzen Bestand unbedingt selbst in Augenschein nehmen und bei Bedarf labordiagnostische Untersuchungen veranlassen. Die Tierärztliche Hausapothekenverordnung (TÄHAV) schreibt eine körperliche Untersuchung der Tiere ohnehin vor.
Wie können Tierärzte von der Telemedizin profitieren?
Die Telemedizin kann dazu beitragen, Arbeitsspitzen in der Tierarztpraxis zu entschärfen und Fahrtrouten zu optimieren. Beispiel: Wenn der Landwirt seinem Tierarzt morgens Fotos bzw. ein kurzes Video von den erkrankten Schweinen schickt, kann der Tierarzt seine Fahrtroute optimieren. Das Bildmaterial erleichtert ihm die Entscheidung, welche Fälle wirklich dringlich sind und welche Besuche er auch noch nachmittags erledigen kann.
Darüber hinaus kann die Telemedizin die Seuchenvorsorge verbessern. Ergibt sich anhand der übertragenden Fotos ein dringender Seuchenverdacht, kann der Betriebsbesuch innerhalb der Praxis so geregelt werden, dass das Verschleppungsrisiko minimiert wird. Außerdem kann die Telemedizin sehr gut genutzt werden, um den Erfolg einer Behandlung zu kontrollieren.
Wie gut eignet sich WhatsApp für die Veterinär-Telemedizin?
Nicht besonders gut, denn der Datenschutz ist fragwürdig. Zudem gibt es keine gute Desktopversion, die sich in die Organisation der Tierarztpraxis einbinden lässt. Das größte Problem ist jedoch, dass sich die Kommunikation zwischen Tierarzt und Landwirt nicht routinemäßig und rechtssicher dokumentieren sowie den behandelten Tieren sicher zuordnen lässt. Das kann extrem wichtig sein, z.B. um gegenüber den Veterinärbehörden oder Tierschutzorganisationen zu beweisen, dass ein Tier rechtzeitig behandelt und in die Genesungsbucht verbracht wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich in dieser erweiterten Dokumentation der engen Zusammenarbeit von Landwirt und Tierarzt den größten Mehrwert.
Gibt es derartige Messenger-Apps bereits?
Es gibt erste Ansätze, die aber größtenteils auf die Bedürfnisse von Kleintierpraxen zugeschnitten sind. Deshalb müssen sich die Nutztierveterinäre unbedingt mit dem Thema beschäftigen und sich in die Entwicklung entsprechender Messenger-Apps stärker einbringen.
Fakt ist: Die Voraussetzungen für telemedizinische Anwendungen sind in der Nutztierhaltung wesentlich besser als in der Kleintierpraxis. In der Nutztierhaltung finden routinemäßige Bestandsbesuche statt. Häufig wird sogar ein regelmäßiges Screening durchgeführt. Die für den jeweiligen Betrieb relevanten Keime sind also größtenteils bekannt. Das erleichtert telemedizinische Entscheidungen. Die Kleintierhalter hingegen erscheinen meist nur sporadisch in der Praxis, z.B. wenn Impfungen fällig werden.
Wie engagiert sich der tiermedizinische Berufsstand beim Thema Telemedizin?
Aufgrund zahlreicher Anfragen hat die Bundestierärztekammer (BTK) bereits 2020 eine Arbeitsgruppe „Telemedizin“ ins Leben gerufen und Leitlinien dazu erarbeitet. Was telemedizinisch erlaubt ist, entscheiden letztlich zwar die Bundesländer. Doch es ist sinnvoll, für den Einsatz einen einheitlichen, bundesweit geltenden Rahmen zu schaffen. Inzwischen hat der Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) die Weiterentwicklung der Leitlinien übernommen.
In den Leitlinien wird unter anderem empfohlen, dass telemedizinische Dienstleistungen nur von niedergelassenen Tierärzten oder deren Angestellten angeboten werden dürfen. Zudem kann eine telemedizinische Befunderhebung bzw. -auswertung nur in einer Verdachtsdiagnose münden. Eine abschließende Diagnose setzt eine eingehende klinische Untersuchung vor Ort voraus.
Auf Basis einer telemedizinischen Befunderhebung dürfen die Tierärzte keine verschreibungspflichtigen Arzneimittel verordnen. Ausgenommen sind nur Folgeverordnungen, denen eine eingehende klinische Untersuchung durch den Tierarzt vorausgegangen ist.
Welche „offenen Baustellen“ im Bereich Telemedizin gibt es noch?
Der Bereich Telemedizin muss dringend in die tiermedizinische Aus- und Fortbildung integriert werden. Die Tierärzte müssen lernen, mit der Technik umzugehen. Dazu gehört auch die richtige Kommunikation mit dem Tierhalter sowie die Erfahrung, was man sich vom Landwirt im Stall alles zeigen lassen muss und wie man ihn richtig instruiert. Wir Praktiker würden uns außerdem wünschen, dass nicht immer nur erklärt wird, was nicht zulässig ist. Zielführender wäre es, zusammen mit Fachleuten konkrete Fallbeispiele zu erarbeiten, für die Telemedizin im Stall genutzt werden darf.
In vielen Regionen Deutschlands mangelt es aber auch noch an der nötigen technischen Infrastruktur. Nicht in jedem Stall gibt es eine gute Onlineverbindung, die es ermöglicht, Livebilder aus dem Stall zu verschicken und online mit dem Tierarzt zu kommunizieren.
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